Unterbiss (Vorbiss): Korrekturmöglichkeit durch Zahnspange oder OP?
„Als Habsburger Unterlippe (oder Habsburger Lippe) bezeichnet man die stark ausgeprägte, erbliche Unterlippe der Habsburger. Sie resultiert aus einer erblichen Überentwicklung des Unterkiefers („echte“ Progenie) und Zahnfehlstellung der Klasse III und bildet einen Teil des charakteristischen Habsburger Gesichtes“[Wikipedia].
Vielen historischen Schriften und Überlieferungen zu urteilen, sind die Habsburger mit einem prominenten Kinn in die Weltgeschichte eingegangen. Was Sie über den „berühmten Vorbiss“ wissen müssen und welche Behandlungsmethoden es in der Kieferorthopädie gibt, erfahren Sie hier.
Inhaltsverzeichnis
Das Wichtigste in Kürze:
- Ein Unterbiss, Vorbiss oder auch Mesialbiss, liegt vor, wenn sich der Unterkiefer zu weit vorne und/oder der Oberkiefer zu weit hinten befindet.
- Die Ursachen eines Mesialbisses sind häufig genetischer Natur.
- Ein Unterbiss kann im Rahmen einer kieferorthopädischen Behandlung bei Kindern mit losen und festen Zahnspangen und bei Erwachsenen zum Teil nur durch eine Kiefer-Operation (Dysgnathie-OP) behandelt werden
- Die Symptome eines Unterbisses sind vielfältig und reichen von einer unzufriedenstellenden Ästhetik, über Kaubeschwerden bis hin zu erhöhter Kariesinzidenz
Was ist ein Unterbiss?
Ein Unterbiss liegt per Definition vor, wenn der Unterkiefer überentwickelt (Mandibuläre Prognathie, „echte“ Progenie) und/oder der Oberkiefer unterentwickelt (Maxilläre Retrognathie, Pseudoprogenie) ist.
Dabei greifen die Zähne von Ober- und Unterkiefer nicht, wie bei einer Neutralverzahnung (Angle Klasse I), reisverschlussartig ineinander, sondern der vordere Höcker des oberen 6-Jahres-Molars greift vor den unteren 6-Jahres-Molar (Angle Klasse III).
Der Unterbiss ist von außen hauptsächlich daran zu erkennen, dass die unteren Schneidezähne vor den oberen Schneidezähnen liegen (frontaler Kreuzbiss). Schon im Kindesalter lassen sich Tendenzen eines starken Unterkieferwachstums erkennen, die unbehandelt zu weitreichenden Problemen im Erwachsenenalter führen können.
Diagnose des Unterbisses
Wie auch beim Überbiss bedarf es zunächst einer gründlichen Inspektion der Mundhöhle und der skelettalen Verhältnisse durch den Kieferorthopäden. Nachdem Modelle, oder ein Intraoralscan angefertigt wurden, muss zwingend eine röntgenologischen Diagnostik (Panoramaschichtaufnahme, Fernröntgenseitenbild) erfolgen.
Beim Unterbiss kompensieren die Zähne häufig den nach vorne stehenden Unterkiefer. Somit stehen die oberen Zähne nach vorne gekippt und die unteren nach hinten gekippt, um das Ausmaß der Klasse III zu verringern. Nach gründlicher Auswertung der gesamten Unterlagen sowie der Röntgenbilder lässt sich die exakte Diagnose stellen und eine geeignete Therapie finden.
Ursachen eines Unterbisses
Bis heute sind die Ursachen eines Unterbisses nicht vollständig geklärt, jedoch gelten genetische, epigenetische, demografische Faktoren sowie Umweltfaktoren als sehr wahrscheinlich[1]. Die häufigste Ursache stellt jedoch die genetische Prädisposition dar, wie es auch bei den Habsburgern der Fall war. Ist also ein Elternteil betroffen, so ist es also sehr wahrscheinlich, dass auch das Kind einen stark ausgeprägten Unterkiefer und einen Unterbiss entwickelt. Eine frühkindliche Inspektion durch den Kieferorthopäden sollte in diesem Falle unerlässlich sein.
Auch bestimmte Habits, wie beispielsweise das viscerale Schluckmuster (falsches Schlucken) und Zungenpressen, können das Ausmaß eines Unterbisses verstärken[2]. Aber auch eine Vielzahl von Syndromen, wie z. B. die Dysostosis cleidocranialis, Morbus Crouzon oder die Trisomie 21 können eine Ursache für eine Pseudoprogenie darstellen.
Des Weiteren können frühkindliche Traumata, bei denen Oberkiefer-Milchzähne verfrüht verloren gegangen sind, zu einem progenen Erscheinungsbild führen, da der Oberkiefer in seinem Wachstum gehemmt wird[3].
Aus all den genannten Gründen ist es deshalb sinnvoll, schon bei Kindern mit reinem Milchgebiss eine kieferorthopädische Inspektion durchführen zu lassen und somit das genetische Wachstum zu lenken sowie mögliche Habits und andere Faktoren zu verringern oder ganz abzugewöhnen.
Auswirkungen eines Unterbisses
Genau wie beim Überbiss, bei dem der Unterkiefer zu weit hinten steht, gibt es auch im umgekehrten Fall eine Vielzahl an Problemen und Auswirkungen, die daraus resultieren:
- Erschwertes Kauen- und Abbeißen: Steht der Unter- vor dem Oberkiefer, so kann Kauen und Abbeißen von Speisen oft hinderlich und unangenehm sein
- Ästhetische Einbußen: ein prominenter Unterkiefer kann bei einem zarten Gesicht oft massiv und klobig wirken. Psychische Probleme und soziale Isolierung sind häufig die Folge
- Kiefergelenkprobleme: Durch die falsche Unterkieferlage liegen die Kiefergelenke häufig nicht in ihrer zentralen Position und eine Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) kann sich etablieren
- Starke Abnutzung/Abbrechen der Zähne: Stehen die unteren Zähne vor den oberen, sind sie stärker traumagefährdet sowie gefährdet durch andere exogene Faktoren
- Erhöhtes Kariesrisiko: liegen Unterkieferzähne vor den Oberkieferzähnen, werden sie weniger mit Speichel umspült und die Kariesinzidenz steigt rapide an
- Sprachprobleme
- Atemprobleme
KFO-Behandlung von Kindern mit Unterbiss
Abhängig von Ursache, Ausmaß und Prognostik der Klasse III fällt die Therapiefindung unterschiedlich aus.
Ist die Genetik der Grund für eine echte Progenie, so sollte der Unterkiefer in seinem Wachstum gehemmt und der Oberkiefer in seinem Wachstum gefördert werden. Dafür gibt es unterschiedliche Methoden und eine Vielzahl an losen und festen Zahnspangen, die verwendet werden können.
Eine Auflistung der wichtigsten Geräte finden Sie hier:
- feste Zahnspange mit intermaxillären Gummizügen
- Delaire Maske
- Kopf-Kinn-Kappe
- Fränkel-III Funktionsregler
- Unterkieferplatte mit Zungengitter
- Headgear
- Mandibular Retraktor
- u.v.m.
Eine bekannte und häufig angewendete Methode in unserer Praxis ist die Kombination einer Gaumennahterweiterungsapparatur mit einer Delaire Maske. So kann der Oberkiefer geweitet und gleichzeitig ein Wachstumsreiz gesetzt werden. Der Oberkiefer hat dadurch die Möglichkeit, sich adäquat zu entwickeln und wird nicht in seinem Wachstumsprozess vom Unterkiefer behindert. Hier ist es wichtig, den richtigen Moment abzupassen, und den Wachstums-Peak bei Jungen und Mädchen entsprechend auszunutzen. Eine Nachbehandlung mittels fester Zahnspange ist jedoch fast immer notwendig.
Verursachen Habits, ein falsches Schluckmuster oder eine inadäquate Atmung eine Klasse III-Dysgnathie, so müssen diese Faktoren beseitigt und in manchen Fällen eine logopädische Begleittherapie angesetzt werden. Eine anschließende kieferorthopädische Therapie mit losen und/oder festen Zahnspangen ist auch hier in den meisten Fällen unumgänglich.
Auch bei Syndromen lässt sich durch frühe kieferorthopädische Interaktion das Wachstumsmuster durchbrechen und eine Verbesserung der Kiefer- und Zahnstellung erzielen.
Behandlung von Erwachsenen mit Unterbiss
Bei Erwachsenen Patienten mit ausgeprägtem Unterbiss, lässt sich oft nur durch eine Unterkieferrück- und/oder Oberkiefervorverlagerung (Dysgnathie-OP) ein zufriedenstellendes Ergebnis mit anschließend stabiler Bisslage erzielen, da das Wachstum bei Erwachsenen vollständig abgeschlossen ist und nicht mehr gefördert oder gehemmt werden kann. Diese Therapie wird bei entsprechender Indikation vollständig von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Eine Vor- und Nachbehandlung mittels fester Zahnspange ist in diesem Fall essenziell. Der gesamte Prozess ist langwierig, ist jedoch in vielen Fällen die einzige Möglichkeit der Therapie.
Ist die Klasse III-Problematik nur gering ausgeprägt und lässt sich dental kompensieren, indem man lediglich die Zahnstellung verändert, kann in seltenen Fällen durch eine reine kieferorthopädische Behandlung Abhilfe geschaffen werden.
Jeder Fall ist anders und muss individuell bewertet werden. Aus diesem Grund ist eine gründliche Untersuchung und ein Erstellen eines vollwertigen Konzepts das A und O.
Unterbiss-Behandlung: Wie hoch sind die Kosten?
Bei Kindern und Jugendlichen, die das 18 Lebensjahr noch nicht erreicht haben, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung, wenn das Kind in die „Kieferorthopädischen Indikations-Gruppe M3 oder M4 eingeordnet wird (KIG-Einstufung). Der Kieferorthopäde misst dafür den Abstand zwischen unteren Front- und oberen Frontzähnen. Ist dieser 0 mm oder kleiner, wird die Behandlung von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Ist der Abstand dabei größer als 0 mm, müssen die Kosten privat gezahlt werden.
Bei erwachsenen Patienten erfolgt ebenfalls eine, durch den Kieferorthopäden ausgeführte Abstandsmessung der unteren zu den oberen Frontzähnen. Ist dieser kleiner als 0 mm, sollte die Therapie mittels Dysgnathie-OP erfolgen. Nur in diesem Fall ist eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen gewährleistet.
Ist der Abstand größer als 0 mm, besteht keine Indikation für eine Kiefer-Operation und die gesetzlichen Krankenkassen decken die Therapie-Kosten nicht ab. Fällt dennoch die Entscheidung für eine kieferorthopädische Kompromissbehandlung, muss der Patient für die Kosten dafür selbst aufkommen.
FAQ
Ob eine OP notwendig ist, ist abhängig vom Schweregrad und vom Alter des Patienten. Bei Patienten unter 18 Jahren, wird durch konventionelle Kieferorthopädie versucht, den Unterbiss zu korrigieren. Dafür werden lose und feste Zahnspangen verwendet und der Unterkiefer in seinem Wachstum gebremst bzw. der Oberkiefer in seinem Wachstum gefördert. Eine Kiefer-Operation ist unter 18 Jahren kontraindiziert und in Deutschland nicht erlaubt.
Ist der Patient jedoch über 18 Jahre alt und vollständig ausgewachsen, ist eine Kiefer-Operation oft die einzige Lösung, den prominenten Unterkiefer nach hinten zu verlagern. Besteht also die Indikation für eine Dysgnathie-Operation, so werden die Kosten dafür von den gesetzlichen Krankenkassen getragen. Hierbei wird jedoch lediglich die „Regelversorgung“ mit konventionellen Brackets von außen bezuschusst. Werden Extraleistungen, wie kleinere Metallbrackets, Keramikbrackets, weiche Bögen u.v.m. gewünscht, müssen die Kosten dafür privat getragen werden.
Je früher die Behandlung eines Unterbisses begonnen wird, desto besser und stabiler ist das Ergebnis danach. Wird beispielsweise schon im Rahmen einer Frühbehandlung (im Alter zwischen 7 und 9 Jahren) angefangen, so lässt sich das Kieferwachstum noch am besten in die gewünschte Richtung steuern und die Ergebnisse hinterher neigen am wenigsten zum Rückfall (geringe Rezidivneigung). Doch auch bei einem späteren Behandlungsbeginn, resultieren bei guter Mitarbeit häufig zufriedenstellende Ergebnisse.
Das Wichtigste ist es also, so früh wie möglich einen Kieferorthopäden aufzusuchen und sich individuell beraten zu lassen, denn häufig lassen sich bestimmte Wachstumstendenzen nur durch gründliche Diagnostik herausfinden.
Ob eine OP notwendig ist, ist abhängig vom Schweregrad und vom Alter des Patienten. Bei Patienten unter 18 Jahren, wird durch konventionelle Kieferorthopädie versucht, den Unterbiss zu korrigieren. Dafür werden lose und feste Zahnspangen verwendet und der Unterkiefer in seinem Wachstum gebremst bzw. der Oberkiefer in seinem Wachstum gefördert. Eine Kiefer-Operation ist unter 18 Jahren kontraindiziert und in Deutschland nicht erlaubt.
Quellen
[1] Genetic Factors Involved in Mandibular Prognathism: Anna Doraczynska-Kowalik, Kamil H Nelke, Wojciech Pawlak, Maria M Sasiadek, Hanna Gerber
[2] Kahl-Nieke 2009
[3] Kahl-Nieke, 2001