Überbiss (Distalbiss) bei Kindern und Erwachsenen
Die im zahnmedizinischen Fachjargon bezeichnete Klasse II oder Distalbiss hat im Volksmund viele Namen. Dazu zählen unter anderem Rückbiss, Überbiss oder Pferdebiss. Bei all diesen Benamungen handelt es sich um eine Unterentwicklung des Unterkiefers mit teilweise vorstehenden oberen Zähnen (Klasse II/1). Doch das ist nicht alles. Es gibt auch andere Formen und Ausprägungen des Distalbisses. Welche diese sind und wie sie sich bei Kindern und Erwachsenen am besten therapieren lassen, erfahren Sie hier.
Inhaltsverzeichnis
Das Wichtigste in Kürze
- Ein Überbiss, auch Distalbiss genannt, liegt vor, wenn sich der Oberkiefer zu weit vorne und/oder der Unterkiefer zu weit hinten befindet
- Ein Überbiss kann durch genetische Faktoren, Habits oder Syndrome entstehen
- Ein Überbiss kann im Rahmen einer kieferorthopädischen Behandlung bei Kindern mit losen und festen Zahnspangen und bei Erwachsenen zum Teil nur durch eine Kiefer-Operation (Dysgnathie-OP) behandelt werden
Was ist ein Überbiss und die verschiedenen Arten der Fehlstellung
Ein Überbiss bedeutet, dass der Oberkiefer zu weit vorne oder der Unterkiefer zu weit hinten liegt – manchmal ist es auch beides. Es gibt verschiedene Arten eines Überbisses: Per Definition liegt ein solcher vor, wenn der Oberkiefer überentwickelt (Maxilläre Prognathie) und/oder der Unterkiefer unterentwickelt (Mandibuläre Retrognathie) ist.
Es gibt verschiedene Arten eines Überbisses: Per Definition liegt ein solcher vor, wenn der Oberkiefer überentwickelt (Maxilläre Prognathie) und/oder der Unterkiefer unterentwickelt (Mandibuläre Retrognathie) ist.
Dabei greifen die Zähne von Ober- und Unterkiefer nicht, wie bei einer Neutralverzahnung (Angle Klasse I), reisverschlussartig ineinander, sondern der vordere Höcker des oberen 6-Jahres-Molars greift hinter den unteren 6-Jahres-Molar (Angle Klasse II). Er ist von außen hauptsächlich daran zu erkennen, dass die oberen Schneidezähne einen zu großen Abstand zu den unteren Schneidezähnen haben.
Dabei können die oberen Schneidezähne nach vorne gekippt (Angle Klasse II/1) oder nach hinten gekippt sein (Angle Klasse II/2). Der Überbiss kommt schon im Kindesalter vor und ist auch bei Erwachsenen eine der häufigsten Fehlstellungen überhaupt.
Diagnose des Überbisses
Um einen Überbiss zu diagnostizieren, bedarf es vor allem einer gründlichen Inaugenscheinnahme durch den Kieferorthopäden. Dieser untersucht die Stellung und Form der Zähne auf dem Kieferkamm sowie das Größenverhältnis der Kieferknochen zueinander.
Des Weiteren müssen Abdrücke oder ein Intraoralscan des Kiefers genommen werden sowie Röntgenbilder (Panoramaschichtaufnahme, Fernröntgenseitenbild) erstellt und ausgewertet werden. Erst dann lässt sich mit Sicherheit sagen, ob ein Distalbiss vorliegt und welcher Kiefer hauptsächlich ausschlaggebend für die Fehlstellung ist.
Ursachen eines Überbisses
Die Ursachen eines Überbisses können vielfältig sein. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Genetik. Liegt bei den Eltern eine Klasse II vor, so ist es bei deren Kindern relativ wahrscheinlich, dass eben diese Kieferfehlstellung auftritt.
Ebenfalls wichtig zu nennen sind Habits (Schlechte Angewohnheiten) wie z. B. ausgeprägtes Daumenlutschen oder langwieriges Nuckeln an der Trinkflasche 1. Auch das Nuckeln am Schnuller führt häufig zu ausgeprägten Überbissen. Empfehlenswert ist es daher, dem Kind so schnell es geht das Schnuller- und Flaschennuckeln abzugewöhnen.
Ein weiterer Grund für die Entwicklung eines starken Distalbisses ist das viscerale, frühkindliche Schluckmuster, bei dem die Zunge anstatt an das Gaumendach gegen die Oberkieferfrontzähne gedrückt wird. Normalerweise stellt sich dieses Schluckmuster, welches bei Säuglingen noch vollständig normal ist, in den ersten Lebensjahren zu einem kontrollierten, erwachsenen Schluckmuster um. Durch das ständige Drücken der Zunge an den Oberkiefer bekommt dieser den Reiz, sich stark zu entwickeln. Durch das ständige Drücken der Zunge gegen die Oberkieferzähne fächern diese nach vorne auf und werden lückig. Somit entsteht schnell eine Klasse II/2.
Des Weiteren können auch einige Syndrome und genetische Erkrankungen verantwortlich für einen Distalbiss sein. Aus all den genannten Gründen ist es deshalb sinnvoll, schon bei Kindern mit reinem Milchgebiss eine kieferorthopädische Inspektion durchführen zu lassen und somit genetisches Wachstum zu lenken sowie Habits auszuschalten.
Auswirkungen eines Überbisses
Die Auswirkungen eines Überbisses können enorm sein. Die folgende Tabelle zeigt diese deutlich:
Auswirkung | Erklärung |
Verändertes Gesichtsprofil | Hasenzähne, fliehendes Kinn, lückige oder steile Front |
Kaubeschwerden | Durch die große Stufe zwischen Oberkieferfront- und Unterkieferfrontzähnen ist das Abbeißen oft erschwert |
Beeinträchtigung des Mundschlusses, vermehrte Mundatmung | Reduzierter Speichelfluss, erhöhtes Risiko für Atemwegserkrankung, erhöhte Kariesinzidenz und Zahnverfärbungen |
Erhöhte Gefahr von Frontzahntrauma | Durch die große Stufe zwischen Oberkieferfront- und Unterkieferfrontzähnen ist die Gefahr der Verletzung der vorstehenden Zähne größer |
Falsche Belastung der Kiefergelenke | Kann zu Kiefergelenkschmerzen und zu einem Discusprolaps führen, der in einer CMD resultieren kann (craniomandibulären Dysfunktion) |
Psychische Belastung | Durch ästhetische Einbußen kann Schamgefühl, soziale Isolierung und Abbau des Selbstbewusstseins stattfinden |
Kieferorthopädische Behandlung eines Überbisses
Die Behandlung eines ausgeprägten Überbisses bei Kindern und Erwachsenen unterscheidet sich grundlegend voneinander und richtet sich gänzlich nach der Ursache.
Überbiss-Behandlung bei Kindern und Jugendlichen
Bei Kindern, die dabei sind, einen Distalbiss aufgrund von genetischen Faktoren zu entwickeln, kann schon effektiv mit herausnehmbaren, kieferorthopädischen Geräten (z.B. funktionskieferorthopädischen Geräten) vorbehandelt werden, um das Kieferwachstum gezielt zu fördern oder zu hemmen. Dabei ist es wichtig, das richtige Zeitfenster zu erwischen und das Kieferwachstum somit optimal in die richtige Richtung zu lenken.
Handelt es sich um Habits, ist es notwendig, diese abzustellen und ggf. mit herausnehmbaren Geräten nachzuhelfen. Bei falschem Schluckmuster ist häufig die Kooperation mit einer logopädischen Praxis von Vorteil.
In den meisten Fällen ist aber eine Nachkorrektur mittels fester Zahnspange unabdingbar.
Überbiss-Behandlung bei Erwachsenen
Bei Erwachsenen ist es jedoch komplizierter, eine Unterkieferrücklage bzw. Oberkiefervorlage zu therapieren, da das Wachstum schon abgeschlossen ist. In manchen, leichten Fällen reicht eine kieferorthopädische Behandlung mit festen Zahnspangen (von außen oder innen) und der Einsatz von Hilfsmaterialien wie beispielsweise intermaxillären Gummizügen aus, um einen Kompromiss zwischen Ästhetik und Funktion zu erlangen.
In anderen Fällen kann eine Zahnextraktion in Kombination mit einer festen Zahnspange das Missverhältnis der Kiefergrößen ausgleichen.
Ist die Kieferfehlstellung jedoch stärker ausgeprägt, hilft oft nur noch eine kombiniert kieferchirurgisch-kieferorthopädische Therapie als Lösung. Aus diesen Gründen ist es sehr von Vorteil, so früh wie möglich eine kieferorthopädische Praxis aufzusuchen und sich adäquat beraten zu lassen.
Wie hoch sind die Kosten eine Überbiss-Behandlung
Bei Patienten bis zum 18. Lebensjahr, werden die Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung übernommen, wenn der Schweregrad des Distalbisses so groß ist, dass das Kind in die Kieferorthopädischen Indikations-Gruppe D4 und D5 eingeordnet wird (KIG-Einstufung).
Der Kieferorthopäde misst für die Einstufung den Abstand der oberen Front- zu den unteren Frontzähnen aus. Ist dieser größer als 6 mm, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Behandlung – jedoch nur die Regelversorgung. Ist der Abstand dabei kleiner als 6 mm, zahlen die gesetzlichen Krankenkassen nicht und die gesamten Kosten müssen privat getragen werden.
Bei erwachsenen Patienten erfolgt ebenfalls eine, durch den Kieferorthopäden ausgeführte Abstandsmessung der oberen zu den unteren Frontzähnen. Ist dieser über 6 mm, liegt eine Indikation für eine Kiefer-Operation vor. Nur in diesem Fall erfolgt eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen. Ist der Abstand kleiner als 6 mm, besteht keine Indikation für eine Kiefer-Operation und die gesetzlichen Krankenkassen decken keine Kosten ab. Fällt dennoch die Entscheidung für eine kieferorthopädische Kompromissbehandlung, muss der Patient die Kosten dafür selbst aufbringen.
Lesen Sie hier mehr über die Kosten für unterschiedliche Behandlungswege.
FAQs
Die Behandlungsdauer ist individuell sehr unterschiedlich und abhängig von vielen Faktoren. Dazu zählen:
– Alter des Patienten
– Ausmaß des Überbisses
– Ursache des Überbisses
– Mitarbeit des Patienten
Während bei Kindern und Jugendlichen der Distalbiss schon innerhalb eines Jahres verbessert werden kann, ist die Behandlung eines erwachsenen Distalbisses, der lediglich durch eine Kiefer-Operation (Dysgnathie-Operation) behoben werden kann, langwierig und kann bis zu drei und mehr Jahren dauern. Die Spannbreite ist groß und die Behandlungszeit ist individuell und von Fall zu Fall unterschiedlich.
Bei erwachsenen Patienten über das 18. Lebensjahr hinaus, ist die Korrektur eines ausgeprägten Distalbisses häufig lediglich mittels einer Kiefer-Operation möglich. Diese ist erforderlich, insofern die Lücke zwischen den oberen und unteren Frontzähnen über 6 mm groß ist. Außerschließlich in diesem Fallübernehmen die gesetzlichen Krankkassen die Kosten für die KFO-Behandlung. Bei kleinerem Abstand müssen die Kosten privat getragen werden.
Quellen: 1 The association between nutritive, non-nutritive sucking habits and primary dental occlusion: Hiu Tung Bonnie Ling 1, Fung Hou Kumoi Mineaki Howard Sum 1, Linkun Zhang 2, Cindy Po Wan Yeung 3, Kar Yan Li 3, Hai Ming Wong 1, Yanqi Yang 4